JEANNE VICERIAL, Der Rand in der Mitte

JEANNE VICERIAL, Der Rand in der Mitte

Textilhandwerkerin, Silhouettenbildhauerin, außergewöhnliche Designerin, Jeanne Vicerial geht über die Codes und Formen der Kunstwelt hinaus, indem sie neue Figuren präsentiert, und ohne Vorwarnung: der Rand in der Mitte.

Foto aus dem Kurzfilm "Une Renaissance" unter der Regie von : Louise Ernandez nach einer ursprünglichen Idee von Jeanne Vicerial und Louise Ernandez.

Zwischen ihrer Einzelausstellung in Paris bei Templon und ihrer Präsenz bei Lafayette Anticipations steht dieser Monat Februar im Zeichen von Jeanne Vicerial und ihren Silhouetten aus schwarzen Fäden. Nach einem gemeinsamen Moment mit der Künstlerin Anfang Februar ist es eine ganze Reflexion, die sich Ihnen präsentiert.

Impressum: Ansicht der Einzelausstellung von Jeanne Vicerial: "ARMORS", 7. Januar - 11. März 2023, Galerie Templon, Paris. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und TEMPLON, Paris - Brüssel - New York. Foto © Adrien Millot.

Wie sind diese mal stehenden, mal liegenden Puppen zu charakterisieren? Die Frage ist umso berechtigter, da Jeanne Vicerial vor allem gelernte Modedesignerin ist. Stehen wir vor Kleidern, die von Models getragen werden, oder vor autonomen Skulpturen? Die Nuance ist fein, aber ohne ein gewisses Merkmal, wie uns die Künstlerin bestätigt, für die die einzige Grenze die „Möglichkeit ist, die Skulpturen mit einem Körper zu besetzen. […] “Noch vor einem Jahr”, fährt sie fort, “habe ich Kleidungsskulpturen gemacht, von denen einige tragbar waren: Heute habe ich bei Templon Skulpturen gemacht. „Der Körper erweist sich als bestimmend und konstituierend für die Arbeit der Künstlerin.

Impressum: Ansicht der Einzelausstellung von Jeanne Vicerial: "ARMORS", 7. Januar - 11. März 2023, Galerie Templon, Paris. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und TEMPLON, Paris - Brüssel - New York. Foto © Adrien Millot.

„Das Wort Körper ist sehr zweideutig”, sagte Descartes, für den sich der Begriff sowohl auf die Materie als auch auf die Gestaltung der Seele bezieht. Wenn wir dieser Argumentation folgen, ist der Körper ein leeres Gefäß, das wir mit Bedeutung bekleiden würden/möchten, er ist sowohl ein Symbol als auch ein Werkzeug.

Mit der für die Galerie Templon produzierten Ausstellung Armors wollte Jeanne Vicerial „Frauenkörper mit Rüstungen ausstatten“. Der erste Wunsch, berichtet sie, sei es gewesen, diese verwundbar dargestellten antiken Venus mit nassen Tüchern zu schützen, was sie während ihres Aufenthalts in der Villa Medici im Jahr 2019 beobachten konnte. An Beispielen von Skulpturen heldenhafter Männer mit prallen Muskeln mangelt es in Rom nicht , warum also nicht die Karten neu verteilen und alle Körper bewaffnen? „Die Frage nach dem Verhältnis zum weiblichen Körper, sagt uns die Künstlerin, ist etwas, das ich in meiner persönlichen Konstruktion erlebt habe“ und erinnert uns damit an den Teil des Universellen, den sie in ihren Kreationen einfügt. Der Körper dieser nackten Venus ist sowohl der der Künstlerin als auch der aller Frauen.

Mit Armors pocht die Künstlerin daher auf „die Darstellung des weiblichen Körpers, vor allem aber auf die in der Kunstgeschichte wenig vertretenen Zustände des weiblichen Körpers wie Schwangerschaft, Geburt, Abtreibung …“. Es geht sowohl um den Schutz als auch darum, diese Körper sichtbar zu machen.

Impressum: Ansicht der Einzelausstellung von Jeanne Vicerial: "ARMORS", 7. Januar - 11. März 2023, Galerie Templon, Paris. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und TEMPLON, Paris - Brüssel - New York. Foto © Adrien Millot.

Die Künstlerin erinnert uns auch daran, dass „die menschliche Präsenz des Körpers in der Strick- und Webtechnik innewohnt“. Der technische Prozess von Jeanne Vicerial ist ziemlich einzigartig, er folgt einer Partnerschaft mit der Universität MINES ParisTech. Es ist ein robotisches Werkzeug, das die Arbeit der Künstlerin in den Rang des digitalen Handwerks stellt.

Um auf den Körper zurückzukommen, der künstlerische Prozess von Jeanne Vicerial wurde auf der Grundlage von Maßanfertigung und Konfektion geschaffen, was offensichtlich einen ausgeprägten Geschmack für Anthropomorphismus impliziert. So erschafft sie Silhouetten als Negativ des menschlichen Körpers, der auf der Suche nach seinem Positiv, seinem Seelenverwandten wäre. Der Platz, der der Suche nach dem Anderen im Werk der Künstlerin zugeordnet wird, kann nur mit Helfe ihrer Werken geschaffen werden, die sich sonst nur halb offenbaren würden.

Impressum: Ansicht der Einzelausstellung von Jeanne Vicerial: "ARMORS", 7. Januar - 11. März 2023, Galerie Templon, Paris. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und TEMPLON, Paris - Brüssel - New York. Foto © Adrien Millot.

Für Sartre führt die Präsenz des Anderen zu einer neuen Dimension des Selbst. In gleicher Weise aktiviert die Anwesenheit des Besuchers (des Anderen) das künstlerische und poetische Potenzial dieser Silhouetten-Rüstungen, da für den Künstler „die wirklichen Körper die der Besucher sind“. Der Andere sind auch Tänzer, Performancekünstler, die die Stücke aktivieren. Jeanne Vicerial erinnert uns daran, dass ihre Kreationen nur „Spuren des Körpers“ sind, die den Besucher oder Träger widerspiegeln. Durch diese Resonanz hat die Künstlerin universelle Körper geschaffen, die über das Geschlecht hinausgehen und sowohl das Männliche als auch das Weibliche in einer fortwährenden „Mutation“verbinden. Es handelt sich also um Silhouetten, die sich zugunsten der Sichtbarkeit universeller Bilder einer Geschlechtseinteilung verweigern.

Impressum: Ansicht der Einzelausstellung von Jeanne Vicerial: "ARMORS", 7. Januar - 11. März 2023, Galerie Templon, Paris. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und TEMPLON, Paris - Brüssel - New York. Foto © Adrien Millot.

Es wäre nicht zu viel zu sagen, dass wir alle einen Körper haben, dem diese Rüstungen hypnotische Worte zuflüstern, um den idealen Körper, der ihn aufnimmt, zu suchen, um in ihn hineinzuschlüpfen, als würde man einen Handschuh anziehen. Diese Rüstungen sind für den anderen bestimmt, aber insbesondere für den Anderen, Das Zweite Geschlecht.

Kredit:
Titelfoto (Home) : Joseph Schiano di Lambo
Fotos : Adrien Millot
Text: Raphaël Levy
Übersetzung : Anahita Vessier

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DANIELA BUSARELLO, Expressionistin des Lebendigen

DANIELA BUSARELLO, Expressionistin des Lebendigen

Daniela Busarello bezeichnet sich selbst als bildende Künstlerin und Expressionistin des Lebendigen. In der Tat ist der Platz biologischer Wesen, ob Pflanzen oder Menschen, von zentraler Bedeutung für ihre Arbeit, in der sie ständig versucht, die Welt um sich herum zu untersuchen. Sie interessiert das Verhältnis des Menschen zur Natur, aber auch zwischenmenschliche Beziehungen, die unter anderem durch das Befragen des feministischen Engagements verdeutlicht werden.

Foto: Piotr Rosinski

Das Malen steht im Licht Deiner jetzigen Tätigkeit. Erzähle uns, wie Du von der Architektin in Brasilien zur Malerin in Frankreich wurdest.

Es war eine aufregende Reise voller Erfahrungen, die es mir ermöglichten, meinen Weg zu finden. Ohne wirklich zu wissen warum, saß ich eines Tages im Flugzeug nach Paris, um mir eine einjährige Auszeit als Architektin in Brasilien zu nehmen. Vielleicht war es das Gefühl, dass ich es sonst nie machen würde, wenn ich Brasilien nicht damals verlassen hätte. Trotzdem wachte ich an meinem 40. Geburtstag in meiner Pariser Wohnung mit einem so freien Gefühl auf, ohne jegliche Ängste. Also beschloss ich, mich für die Akademie der Bildenden Künste, les Beaux-Arts de Paris, einzuschreiben.

Es war ein Aktzeichenkurs für Erwachsene. Ich hatte das Glück, einen großartigen Lehrer zu haben, der verstand, dass ich mich langweilte, die menschlichen Modelle so zu kopieren, wie sie sind, ich wollte in sie eindringen, weiter sehen, tiefer als meine Augen es konnten. Durch das Zeichnen entdeckte ich die Innerlichkeit der Welt und der Körper. Was ich vor allem entdeckte, war meine Innerlichkeit.

„Ich bin Malerin und ich bin Frau.“

Du stehst also dazu Frau zu sein und nicht Feministin?

Weißt du, ich finde, es ist etwas noch viel Stärkeres, sich Frau zu nennen, es ist, sich dem anderen Geschlecht entgegenzustellen: Ich bin eine Frau. Da ist ein Wohlwollen, ein Blick, eine Sanftheit. Es bringt auch eine ganze mütterliche Seite mit.

Wir lieben es, nicht wahr, Frau mit all unseren Stärken und Schwächen zu sein?

Absolut, ich will nicht mit Männern konkurrieren. Ich will kein Mann sein. Ich lebe jedoch diese weibliche Kraft mit all ihren Stärken und all ihren Schwächen. Das ist, was meine schöpferische Energie antreibt. Es kommt wirklich aus meinem Bauch heraus, ich könnte gar nicht anders. Sanftheit zum Beispiel ist auch eine menschliche Eigenschaft, denn mich interessiert tatsächlich der Mensch.

Und woher kommt dieses Interesse am Menschen in Deiner Arbeit?

In Wahrheit kommt es aus meinem früheren Leben, als ich Architektin und Stadtplanerin war. Bevor man ein Projekt entwirft, muss man die Umgebung studieren, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht. Ich glaube, ich habe nie aufgehört, dafür sensibel zu sein. Genauso wie die Frage nach den Beziehungen, die wir zum Anderen haben, wobei das Andere ein Mensch, eine Pflanze, ein Tier, die Stadt sein kann. Das sind also reale Körperlandschaften, die durch meine Geste entstehen, in der Kontinuität meines eigenen Körpers.

Du sprichst über Umwelt, Landschaft, Pflanzen, man könnte meinen, dass der Mensch nicht Deine einzige Muse ist.

Es gibt ein Konzept in der Architektur, die Philosophie des Genius Loci, der Geist des Ortes. Es ist eine Idee, die meine Praxis inspiriert, und für die ich mit einem von mir festgelegten Protokoll wirklich in die Natur eintauche. Ich beginne zuerst damit, Pflanzen, Blumen, Steine ​​oder Bäume zu fotografieren, die ich während einer meiner Reisen sammle. Ich mache dieses Material zu Pulver, das ich dann zum Malen verwende. So bewahre ich den Geist und die Energie eines Ortes. Es ist eine Suche nach Innerlichkeit, aber auch ein Hinterfragen dessen, was uns mit allen Dingen verbindet, also mit dem Kosmos.

Und welcher Ort beschäftigt Dich heute am meisten?

Natürlich Brasilien und insbesondere der Atlantische Regenwald am Vorabend seines Verschwindens. Eine Blume auf dem Bürgersteig zu pflücken, wie ich es mache, ist auch ein Stück dieses großartigen Ökosystems, das durch menschliche Aktivitäten gefährdet ist.

„Malen ist mein zweiter Atem geworden, ich kann nicht ohne Malen.“

Irgendwo rettest Du die Wälder Brasiliens auf Deine Weise, indem Du sie in Deinen Bildern verewigst. Kunst strebt danach, für immer zu existieren, vielleicht leider nicht der Atlantische Regenwald.

So hatte ich mir das nicht vorgestellt, aber wahrscheinlich hast du recht, es ist wie eine Art unbewusster Schutz meines Landes. All diese Prozesse sollen auch über die brasilianischen soziokulturellen Probleme sprechen, die derzeit mit einem regelrechten Wettlauf ins Verderben schlittern. Tatsächlich ist das Malen zu meinem zweiten Atem geworden, ich kann nicht ohne Malen. Es sind all diese bewussten und unbewussten Sorgen und Ängste, die ich beim Malen in meine Geste einhauche. Außerdem, obwohl ich vorher einige Bilder vorbereite, endet es oft nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Das Unbewusste leitet mich und erlaubt mir, mich frei auf der Leinwand auszudrücken. Es ist fast therapeutisch.

Deine Geste bringt eine Tiefe, die die einfache Beschreibung der Welt übersteigt …

Allerdings war das nicht immer so, meine ersten Bilder waren schnell fertig. Es war die Augenblicklichkeit von Gefühlen und menschlichen Beziehungen, die ich dargestellt habe. Heute ist die Geste des Malens wichtiger, und dafür brauche ich einen Monat im Vergleich zu früher, wo eine Woche genug war. Die Zeit, in der ich nicht male, ist genauso wichtig, da sie mir erlaubt nachzudenken. Dank dieser großen Leinwände habe ich verstanden, dass das sich Zeit nehmen meiner Geste einen anderen Atem verleiht, etwas sehr Meditatives.

„Sich Zeit zu nehmen bringt einen anderen Atem in meine Geste.“

Und all diese Reisen, diese Ideen, wohin führen sie Dich?

Ich sehe meine aktuellen Arbeiten als eine imaginäre Reise, eine Art mentale Ausstellung, wenn man so will. So kann ich ohne großen Druck arbeiten, so wie ich es für richtig halte. Ich fange an, Bilder mit Farbe aus rein pflanzlichen Stoffen, die ich aus Brasilien mitgebracht habe, zu malen. Das Ergebnis sind Schattierungen von Ocker und Braun, die ich sehr mag und die mich ermutigen, meine Expeditionen fortzusetzen. Ich werde auch bald längere Zeit in Bahia (Brasilien) verbringen.

Kredit:
Titelfoto (Home) : Piotr Rosinski
Fotos : Piotr Rosinski ; Franck Jouery ; Luis Alvarez ; Gilad Sasporta
Text: Raphaël Levy
Übersetzung : Anahita Vessier
Daniela Busarello’s website

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AMIN MONTAZERI, Märchen und Mythen der Melancholie

AMIN MONTAZERI,
Märchen und Mythen der Melancholie

Die iranische Kunstszene hat außerordentliche Künstler, die einen Weg finden, ihr üppiges persisches Kulturerbe mit moderner westlicher Kunst zu verknüpfen. Amin Montazeri ist definitiv einer dieser neuen Talente, den wir weiter im Auge behalten sollten.

Als ich die Arbeiten des jungen Künstlers aus Teheran entdeckte, war ich von der mysteriösen, umfangreichen und apokalyptischen Atmosphäre seiner Bilder beeindruckt. Sie berührten mich mit ihrer Melancholie. Seine Arbeiten sind so intensiv und obskur wie die von Pieter Brueghel oder Hieronymus Bosch.

Amin Montazeris Haupt-Thema ist Geschichte und die Rolle der Märchen, Legenden und Mythen in der Geschichte. Jeder trifft in seinem Leben auf diese Märchen, aber manchmal versuchen die Menschen, vor ihrem Schicksal zu fliehen, ändern es und schreiben die Geschichte neu. Was sind die Konsequenzen und was für ein Märchen entsteht aus so einer Änderung?

Er hinterfragt in seinen Arbeiten auch die Wiederholung der Geschichte, die aus der zu beobachtenden Vergesslichkeit der Menschen herrührt, sogar wenn es sich dabei um schmerzvolle und furchtbare Erfahrungen handelt.

Amin Montazeri wurde 1992 geboren und macht gerade seinen MA in Malerei am College für Bildende Künste in Teheran. Seine nächste Ausstellung findet im Oktober in der Dastan Galerie in Teheran statt und vielleicht ist er auch bei der Art Dubai in diesem Jahr dabei.

Credits:
All works by Amin Montazeri
Text: Anahita Vessier
Übersetzung: Ulrike Goldenblatt
http://www.instagram.com/aminmontazery/

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