ESTELLE HANANIA, Die Vieldeutigkeit der Schönheit

ESTELLE HANANIA, Die Vieldeutigkeit der Schönheit

Estelle Hanania spielt in ihren Fotografien oft mit faszinierenden Vieldeutigkeiten, indem sie das Verrohte mit dem Sanften vermischt, den Zauber mit der Realität und das Normale mit dem Extravaganten.

2006 gewann sie den Fotografie-Preis des Hyères-Festivals und zeigt seitdem ihre Arbeiten in den berühmtesten Modemagazinen und kooperierte mit renommierten Designern wie Hermès, die ihr bei der Arbeit freie Hand ließen.

Du hast einen Abschluss der Schule für Bildende Künste in Paris, du hast 2006 den Fotografie-Preis beim Hyères-Festival gewonnnen. Warum hast du am Ende Fotografie als Ausdrucksmittel gewählt?

Während meines Studiums für angewandte Kunst in der Schule für Bildende Künste in Paris habe ich mich viel mit Fotografie beschäftigt. Aber der entscheidende Wendepunkt kam bei einem Treffen mit der französischen Fotografin Camille Vivier. Sie ist ein wunderbarer Mensch und ihre Modefotografien haben etwas Freies und Unabhängiges. Ihre Arbeit hat mich ermutigt, selbst Fotografin zu werden ohne dabei meine künstlerische Freiheit und meine Ansprüche aufzugeben.

Ich arbeite eher instinktiv und meine Fotografien sind eine Art Vision verschiedener Formen, die in einem Rahmen angeordnet werden. Ich liebe zum Beispiel das eintönige Licht, das in alten osteuropäischen Filmen verwendet wurde.

Es gibt auch eine psychologische Komponente in meinen Arbeiten. Wer ist die Person, die ich da ablichte? Was genau möchte ich in meinen Bildern enthüllen?

Dein Buch “Glacial Jubilé” zeigt Arbeiten aus sechs Jahren, in denen du dich mit den heidnischen Kulturen Europas und ihren Winterritualen auseinandergesetzt hast.

Ich bin ein großer Fan von Volkskunst, Kunst, die von Autodidakten oder nicht in der Kunst ausgebildeten Menschen stammt. In ihren Kreationen liegt etwas sehr Spontanes, Zweckmäßiges, Dekoratives und Naives.

Vor zehn Jahren sah ich die Ausstellung „L’Esprit de la Forêt“ und es gab da dieses Bild einer Maske im Katalog, das mich besonders ansprach. Ich stellte Forschungen darüber an und schaffte es am Ende, das kleine Dorf in der Schweiz zu finden, aus dem es kam. Ich entschied, dort hin zu fahren und während der Wintersonnenwende Fotos zu machen. Seitdem habe ich nicht aufgehört, diese Winterrituale in Bulgarien, Österreich, Schweiz und im Baskenland zu fotografieren.

„Was mich an dieser Sache so fasziniert ist die Tatsache, dass ganz normale Menschen zu dieser Zeit zu Auftrittskünstlern werden. Sie schlüpfen in eine Rolle, verlassen ihr eigenes Ich, um danach ruhiger und gereinigt zurückzukehren. Es ist eine Art Exorzismus.“

Trotzdem sind meine Bilder weniger akkurat als anthropologische Forschungen. Ich mag es, eine Art Geheimnis zu erhalten.

Masken, Kostüme, Zeichnungen auf Körpern, bemalte Gesichter. All das sind Themen, die in deinen Arbeiten immer wieder vorkommen. In deinem Buch „Happy Purim“ hast du Kinder fotografiert, die in ihren Kostümen das jüdische Purim feiern.

Warum hast du so eine Leidenschaft für das Verkleiden und Maskieren?

Ich habe “Happy Purim” in Stamford Hill fotografiert, einem Viertel im Norden von London, in dem orthodoxe Juden wohnen. Ich war ein paar Mal dort, um Bilder von diesen Kindern zu machen, die in den komischsten Kostümen Purim feiern.

Diese Bilder zeigen nicht nur meine Faszination für das Maskieren und Verkleiden, damit man aus sich selbst herausschlüpft, sondern auch das Thema „Geschwister“, für das ich mich interessiere.

Ich habe selbst eine Zwillingsschwester und deshalb einen sehr persönlichen Zugang zur Faszination für Brüder und Schwestern, die gleich aussehen und sich gleich kleiden. Diese Ähnlichkeit kann als etwas Unheimliches oder etwas Lustiges angesehen werden, abhängig von der persönlichen Auffassung des Betrachters.

Neben deinem anthropologischen Interesse, machst du auch Modeaufnahmen für Magazine wie M-Magazin, Another Magazin, Wallstreet Journal, Pop, Dazed and Confused oder für Kunden wie Martin Margiela, Miyake oder Hermès. Inspiriert dich Mode?

Meine Schwester Marion und ich hatten immer großes Interesse an Mode. Wir kauften alle Modemagazine und wussten alles über Designer und Modefotografen.

Unsere Mutter zeichnete und malte viel und sie hat diese kreative Leidenschaft auf uns übertragen. Meine Großmutter nähte viel und vererbte uns die Liebe zum Handwerk.

„Für mich hat Mode etwas Inspirierendes, denn Kleidung und Accessoires sind wie Objekte, mit denen man eine Person kreiert, eine Geschichte erzählt.“

Mich interessiert auch der menschliche Körper und wie er präsentiert werden kann. Somit ist Modefotografie für mich eine großartige Möglichkeit, das alles auszudrücken.

Arbeitest du lieber allein oder kooperierst du gerne mit anderen Künstlern und mischst verschiedene Arten des künstlerischen Ausdrucks? Ein gutes Beispiel ist deine Zusammenarbeit mit dem französischen Künstler Christophe Brunnquell.

Ich liebe es, mit Christophe zu arbeiten. Wir trafen uns in Berlin und organisierten ein Shooting für das Magazin „Sang Bleu“, für das wir mehrere Tänzer gebucht hatten. Während der acht oder neun Stunden haben wir improvisiert und kreiert.

„Die Zusammenarbeit mit Christophe Brunnquell ist außerordentlich, fast wie eine Performance.“

Es ist eine Fusion aus seiner und meiner Arbeit, bei der wir alle Zwänge für unseren gewöhnlichen kreativen Prozess abstreifen, um etwas Neues zu schaffen, ohne zu wissen, was dabei herauskommt. Er verschiebt oder überschreitet permanent Grenzen und ich bin etwas gradliniger und konzentriere mich auf das Model, das ich ablichte.

Aber es gibt auch andere Künstler, die ich bewundere und mit denen ich gern zusammenarbeiten würde. Zum Beispiel der tschechische Filmregisseur Jan Svankmeier, der Künstler Corentin Grossmann oder der Florist Thierry Boutemy.

Du spielst immer mit einer Art Vieldeutigkeit in deinen Bildern und das schafft eine sehr starke und faszinierende Atmosphäre, die manchmal eben auch verstörend ist. Möchtest du mit deinen Arbeiten solche Gefühle erwecken?

Ich mochte nie, dass man mich kategorisiert: das blonde, süße und sanfte Mädchen. Wir haben alle unsere dunklen Seiten. Wir repräsentieren alle ein bestimmtes Bild, aber dahinter ist noch so viel mehr.

„In meinen Bildern zu den Ritualen der Wintersonnenwende zeige ich diese dunkle Seite, die am Ende zu einer Art Katharsis führt, eine Reinigung deines Geistes.“

Gibt es Filme, an die du dich aus deiner Kindheit erinnerst und die deine künstlerische Vision beeinflusst haben?

Es gibt viele: “Der Zauberer von Oz“, „Meine Lieder, meine Träume“, „Die unendliche Geschichte“.

Ich mag die Geschichte der Geschwister, die sich gleich kleiden bei “Meine Lieder, meine Träume”.

“Der Zauberer von Oz” und “Die unendliche Geschichte” beginnen beide in einer normalen Welt und führen dann plötzlich in eine fremde und phantastische Welt.

Das versuche ich auch, in meinen Bildern einzufangen. Also hatten diese Filme definitiv einen Einfluss auf mich.

Was fällt dir zu Iran ein?

Ich denke an meinen Freund Payam und sein Künstlerkollektiv “Slavs and Tatars”. Er hat mich in die iranische Kultur eingeführt.

Kredit:
Alle Fotos: Estelle Hanania
Text: Anahita Vessier
Übersetzung: Ulrike Goldenblatt
http://www.estellehanania.com/

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