CHRISTOPHE CHASSOL, Auf der Suche nach perfekter Harmonie

CHRISTOPHE CHASSOL, Auf der Suche nach perfekter Harmonie

Christophe Chassol ist die moderne Version eines Maestros, der dieses innere Talent der Harmonie besitzt. Er ist immer bestrebt, die Realität zu harmonisieren. Dafür mischt er einzigartige Arrangements aus Film und Musik, um diese multisensorischen Kunstwerke namens „Ultrascore“ zu erschaffen.

Woher stammt deine Liebe zur Musik?

Mein Vater schickte mich und meine Schwester mit vier Jahren zum Konservatorium. Er spielte Saxophon in verschiedenen Bands und er nahm uns immer zu Proben mit. Zuhause entdeckten wir durch ihn verschiedene Arten von Musik. Er war ein sehr guter Lehrer, vor allem sehr praktisch veranlagt, und er brachte uns bei, jedes Mal den Namen der Noten zu sagen, wenn wir etwas spielten.

Seit deiner Kindheit, war es also klar, dass du Musiker werden würdest?

Ich begann mit sechs Jahren, Piano zu spielen. Im Konservatorium hatte ich wunderbare Lehrer, besonders diesen alten Klavierlehrer, der etwas von dem Meister in Hermann Hesses Buch „Das Glasperlenspiel“ hatte.

Aber eigentlich entschied ich erst, Musiker zu werden, als ich 20 war und nachdem ich zwei Jahre Philosophie an der Universität studiert hatte. Meine Eltern waren nicht glücklich über meine Entscheidung, denn sie wollten, dass ich einen stabilen Beruf ergreife. Aber die Irreführung durch meinen Vater spornte mich immer an, zu beweisen, dass ich es schaffen kann. Ich weiß, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, ich könnte keinen anderen Beruf ausüben.

Woher kommt deine Begeisterung für Filme und das Konzept, sie mit deinen eigenen Kompositionen zu verbinden?

Das kommt von meiner Liebe zur Musik und für Kino im Allgemeinen und von der Popkultur aus dem Fernsehen, mit der ich aufwuchs. Ich liebe es, bis in die Nacht fern zu sehen, von einem Kanal zum anderen zu wechseln und unglaubliche Filme und Dokus zu entdecken, oder ein tolles Orchesterkonzert um 3 Uhr morgens.

Als wir klein waren, liebten meine Schwester und ich die West Side Story. Dieser Film war eine echte Offenbarung für mich, wegen seiner perfekten Synchronisation von Bild und Musik.

„Es liegt etwas sehr Subtiles darin, ein Bild und musikalische Noten zu synchronisieren. Das Video wird Teil der Musik.”

Obwohl ein Film sich bewegt, kann man beobachten, wie die Details mit der Musik verbunden sind. Durch die Wiederholung der Bewegung, entstehen viele verschiedene Synchronisationspunkte.

Für mich ist Musik wie die Konstruktion eines Gebäudes mit all den Beschränkungen, die existieren. Es geht um Dinge, wie ein altes Interview, das ich interessant finde, weil es besondere Resonanz hat, mit einem Akkord zu verbinden, den ich zwei Jahre vorher aufgenommen hatte und von dem ich lange Zeit besessen war.

Aber ich komponiere auch gern für andere Leute, das erhält etwas Handwerkliches, das ich sehr mag.

Was ist für dich der schönste Ton?

Es gibt viele Töne, die ich sehr mag, ich bevorzuge keinen. John Cage erklärt das:

„Man muss einen Ton nicht romantisch verkleiden. Man kann die Töne so lieben, wie sie sind.”

Abhängig von der Situation kann ich verschiedene Töne mögen, den Ton eines Sturms am Nachmittag, Regentropfen auf dem Dach etc.

Gibt es einen Künstler, der nicht Musiker ist, der dich inspiriert?

Hermann Hesse hat definitive meine Gedanken am meisten beeinflusst. Ich begann mit seinem Buch „Siddharta“ und seine Art, Gefühle, Emotionen und Ideen auszudrücken, hat mich echt bewegt.

Dann las ich „Narzissus und Goldmund“, das hat mich auch sehr berührt, da es sich mit Logik und Fleisch befasst: ein Künstler zu werden, um das Gesicht der Mutter zu formen, damit der Vater stolz ist.

Aber meine Bibel ist Hesses Buch “Das Glasperlenspiel,“ die imaginäre Biographie seines Helden Josef Knecht, der ‚Magister Ludi‘, der Meister im Glasperlenspiel. Dieses Buch ist wunderbar und eine große Inspiration für mein nächstes Album.

Xavier Veilhan hat dich zur Biennale in Venedig eingeladen. Kannst du mir etwas mehr über eure Zusammenarbeit verraten?

Xavier Veilhans Idee ist es, das Aussehen des französischen Pavillons zu verändern und ihn in ein Umfeld aus Holz und Gewebe im ‚Merzbau-Stil‘ zu verwandeln. Dabei soll sich Skulptur mit Landschaft mischen, und es soll eine Installation geben, die ein Aufnahmestudio enthält.

Er hat verschiedene Musiker eingeladen, in seinem ‘Studio Venezia’ zu arbeiten, in das der Besucher direkt während des Kreationsmomentes eintreten kann und somit den kreativen Prozess bezeugt.

Ich werde dort drei bis vier Tage im Juli arbeiten und Sachen aufnehmen.

Was assoziierst du mit Iran?

Das erinnert mich an die 80er, morgens im Bad, bevor ich zur Grundschule musste. Meine Mutter war schon wach. Ich hörte den Jingle der Nachrichten im Radio und dann die Ansage über den Krieg zwischen Iran und Irak.

Entdecke Christophe Chassols Ultrascores – Trilogie:

Nola Cherie „Easton“ (Ausschnitt von Nola Cheri):  http://youtu.be/_2x76-6BI_Q

Indiamore (ganzer Film): http://youtu.be/X0euvHEnSw8

Big Sun „Reich & Darwin“ (Ausschnitt von Big Sun): http://youtu.be/wdYkTb_gSWA/

Kredit:
– Portrait von Christophe Chassol: Laurent Bochet
– Profilfoto von Christophe Chassol: Flavien Prioreau
– Foto „Hand“ und Foto „Katze“: Flavien Prioreau
– Albumcover „Ultrascore II“: Flavien Prioreau
– Albumcover „Indiamore“ und „Big Sun“ © Tricatel
Text: Anahita Vessier
Übersetzung: Ulrike Goldenblatt
http://www.chassol.fr/

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SILIA KA TUNG, Phantasie ist die Realität der inneren Welt

SILIA KA TUNG, Phantasie ist die Realität der inneren Welt

Silia Ka Tung ist eine chinesische zeitgenössische Künstlerin, die in London lebt. Ihre Arbeiten gleichen einem psychodelischen Ballett organischer Formen in satten Farben, die mit mysteriösen Figuren aus der antiken Mythologie zu tanzen scheinen. Die Mischung dieses modernen Traumlandes und die Einflüsse der Kultur und Tradition Chinas machen Silia Ka Tungs Arbeiten so hypnotisch und einzigartig.

Was beeinflusste deine Entscheidung, Künstlerin zu werden?

Mein Großvater mütterlicherseits war ein etablierter Traditionsmaler in China, also lag es schon in der Familie.

Ich wollte eigentlich Designerin werden. Als ich nach der Oberschule zu einem Interview an die Design-Schule ging, sagte man mir, ich solle Kunst studieren, wenn meine Eltern mich dabei unterstützen. Das war das erste Mal, dass ich darüber nachdachte.

Dann hast du Ölmalerei an der chinesischen Akademie für Bildende Künste in HangZhou studiert und danach einen Masters an der renommierten Slade School of Fine Arts in London absolviert. Unterscheidet sich die Art des Unterrichtens in China von der in England?

Ich lernte ein Jahr in der Kunstschule in China, nachdem ich am Chelsea College für Kunst in London akzeptiert wurde, weil mein Vater der Meinung war, dass ich vorher noch etwas „chinesische Kultur“ lernen sollte. Deswegen besuchte ich einen Grundkurs für Kunst in China bevor ich für meinen BA nach London ging.

„Der Unterrichtsstil in China unterscheidet sich sehr von dem in England. In China musste ich jeden Tag malen und der Unterricht war sehr akademisch. Man lernt alles in Gruppen, der Lehrer kommt und korrigiert deine Fehler und sagt dir, was du tun musst.“

Die Kunstschule in London war freier und hat Spaß gemacht. Der Unterrichtsstil ist sehr zwanglos und inspirierend, aber man war die meiste Zeit auf sich selbst gestellt.

Du hast dich in deiner Kunst sehr weiterentwickelt. Deine früheren Werke waren meistens schwarz-weiße Linienzeichnungen, doch dann haben sich die figürlichen Linien aufgelöst und wurden zu diesem wunderschönen Ballett aus Farben, abstrakten organischen Formen, die die ganze Leinwand bedecken.

Bei deinen letzten Arbeiten hast du von der Malerei zum Experimentieren mit Materialien gewechselt und machst jetzt weiche Skulpturen von Phantasie-Tieren und organischen Formen wie Äste von Bäumen. Warum hast du gewechselt?

„Zeichnen oder Doodling ist immer Teil meines Lebens… Das mache ich automatisch, sobald ich einen Stift in der Hand halte.”

Für meinen BA-Abschlussarbeit am Chelsea College entschied ich mich, eine kleine Zeichnung zu etwas Großem weiterzuentwickeln, und diese lebensgroßen Portraits, gefüllt mit Zeichnungen, begleiteten mich bis ins zweite Jahr meines Masterstudiengangs am Slate College. Aber dann wollte ich etwas anderes ausprobieren. Ich wollte „Game Paintings“ machen. Farbenfrohe, satte Malerei direkt auf die Leinwand aufgebracht, wie beim automatischen Zeichnen.

Malen ist für mich wie ein Spiel, mit Chancen und Spaß und ich male immer um die Ecken herum. Also fühlte ich mich langsam hingezogen, Objekte zu bemalen. Ich begann, weiche Skulpturen zu machen und sie anzumalen. Da bin ich jetzt angekommen.

Hat Mutterschaft deine Arbeit und deine Inspirationen verändert?

Muttersein ist für mich als Künstlerin schwer, weil man seine Prioritäten verändert und auch die Balance. So gerne ich auch mit meinen zwei Töchtern zusammen bin, ich tue mich schwer als Künstlerin. Aber die Zeit hilft und langsam bekommt man die Balance wieder und hoffentlich hat das Muttersein dann einen positiven Einfluss auf meine Arbeiten.

Gibt es ein Zitat, an das du bei deiner Arbeit denkst?

„Unsere innere Welt ist Realität, und das vielleicht mehr als unsere Außenwelt. ”

Marc Chagall

Wenn du an einem neuen Kunstwerk arbeitest, zeigst du deinem Künstler-Ehemann Gideon Rubin deine halbfertigen Arbeiten oder bleibst du lieber in deiner eigenen kreativen Blase?

Wir teilen ein Studio, deswegen zeigen wir einander oft, woran wir arbeiten, besonders wenn meine Arbeiten so lange brauchen. Ich zeige sie ihm hauptsächlich, um seine Meinung zu hören, egal ob das Werk fertig ist oder nicht.

Arbeitest du an einer neuen Ausstellung?

Ich beende ein paar Arbeiten für eine Gruppenausstellung in Amsterdam namens “Vater, Mutter, Tochter, Sohn“, die von Mette Samkalden bei Canvas Contemporary kuratiert wird. Die Ausstellung eröffnet am 14. Januar 2017 und dauert bis Mitte Februar.

Was assoziierst du mit Iran?

Ich war noch nie im Iran, also habe ich alles, was ich über das Land weiß, von Freunden gehört, in Filmen gesehen, Nachrichten, Instagram. Ja, ich habe auf Instagram ein paar Mal den Hashtag Iran verwendet und bin dadurch zu sehr merkwürdigen Orten gekommen. Es ist ein großes Land, reich an Kultur und Geschichte, wunderschön und mysteriös. Ich fände es schön, es mal zu besuchen.

Kredit:
Alle Arbeiten von Silia Ka Tung
Text: Anahita Vessier
Übersetzung: Ulrike Goldenblatt
http://www.siliakatung.com/

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MASOUD GHARAEI, Poesie der Straße in schwarz-weiß Nuancen

MASOUD GHARAEI, Poesie der Straße in schwarz-weiß Nuancen

Masoud Gharaei ist ein junger iranischer Fotograf, der in Teheran lebt und arbeitet und dort seine Inspirationen in alltäglichen Straßenszenen findet, indem er die Menschen in ihrem urbanen Umfeld beobachtet. Seine Arbeit ist eine Art moderne Poesie des Lebens im Iran ausgedrückt in Bildern. Masoud liebt es durch die Straßen zu spazieren, um mit seinem Fotoapparat seine Vision der Stadt und ihrer Bewohner festzuhalten.

„Manchmal zeige ich den Leuten, die mir unbekannt sind, das Foto das ich von ihnen gerade gemacht habe. Sie sind sehr überrascht und ihre Begeisterung spornt mich an weiterzumachen.“

Masoud Gharaei ist 1988 in Behshar, im Norden Irans, geboren und hat ein Master Degree in Industrie Management an der Azadi Universität in Teheran absolviert.

Kredit:
Alle Fotos von Masoud Gharaei
Text: Anahita Vessier
Übersetzung: Anahita Vessier
https://www.instagram.com/masoud__gharaei/

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NOAVI, Die ultimative Kunst der Wanderlust

NOAVI, Die ultimative Kunst der Wanderlust

Mein erstes Zusammentreffen mit Noavi kam zustande, nachdem ich ihre Fotos sah und sofort von ihrer Vision verführt wurde, der Aufrichtigkeit und Spontanität in ihren Arbeiten. Sie wurde in LA geboren und wuchs dort mit jemenitischen und polnischen Wurzeln auf, die ihr eine Mischung aus beiden Kulturen, unglaubliche Energie und endlose Neugier bescherten.

Sie ist fasziniert von der Kultur der Beduinen und reist von Abu Dhabi in die Arktis, um die Sami-Kultur zu studieren, von den atemberaubenden Höhen des Jemens nach Luxor und den Nil herunter zum Gebiet der Nubier. Mit ihrer Kamera und ihrem Moleskine Notizbuch hält sie alles fest, was ihr auf ihren einzigartigen Reisen in der Welt begegnet.

Du reist oft in Länder des mittleren Ostens, wie schaffst du es, als Frau in diesen hauptsächlich islamischen und von Männern dominierten Staaten Fotos zu schießen?

Im Allgemeinen ist es für Frauen und für Männer schwer, Fotos von Frauen in islamischen Ländern zu machen, weil sie sehr verschlossen gegenüber Kameras sind. Fotos von Männern zu machen, ist dagegen viel leichter. Es sind sehr konservative Kulturen und man muss viel mehr arbeiten, um eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, damit man Frauen in arabischen Ländern fotografieren kann.

Wie schaffst du es, dass unbekannte Menschen sich vor deiner Kamera wohlfühlen?

Non-verbale Kommunikation ist das Wichtigste.

„Es gibt vieles, das ohne Worte kommuniziert werden kann, mit den Augen, mit einem Lächeln.“

Es ist das wertvollste Werkzeug, wenn man das Wohlsein von Menschen mit denen man arbeitet, einschätzen kann. Deswegen mache ich oft Bilder von alten Menschen oder Kindern, die eine starke non-verbale Kommunikation haben. Kinder tun das, weil sie noch nicht so lange sprechen und alte Menschen, weil sie alt genug sind, um zu verstehen, dass es nicht immer Worte braucht, um zu kommunizieren.

War es für dich eine Inspiration, mit multikulturellem Hintergrund aufgewachsen zu sein?

Ich glaube, es ist ein Privileg und Reichtum, in einem multikulturellen Umfeld aufgewachsen zu sein. Das verpflichtet noch mehr.

Von Anfang an haben mir meine Eltern den Wunsch vererbt, auf Reisen zu gehen und andere Länder und Kulturen zu entdecken. Sie waren immer Rucksacktouristen, haben nie in schönen Hotels gewohnt. Ich und meine Schwester waren immer die Babies im Rucksack.

Gibt es einen Künstler, der dich inspiriert?

Mich inspiriert die Literatur. Es gibt dort so viel Einfallsreiches, womit man die Grenzen der Realität überwinden kann.

Es gibt diesen Schriftsteller, Lawrence Durrell, der in Alexandria lebte. Er war Brite und schrieb eine Buchserie namens „Das Alexandria Quartett“. Das erste Buch von vier heißt ‚Justine‘ und es ist für mich das schönste literarische Schriftstück. Ich habe noch nie ein Buch so oft gelesen. Beim Reisen habe ich dieses Buch immer bei mir.

Hast du irgendwelche Gegenstände, die du immer auf deine Reisen mitnimmst?

Ich habe immer mein Moleskine Notizbuch bei mir. Ich bin jetzt schon beim 28. Ich schreibe immer alles auf, klebe Sachen wie Blumen, Tickets, Zeitungsausschnitte etc. in meine Notizbücher. Das hilft mir in bestimmten Momenten im Leben. Man kann sich an einen Tag erinnern aber man kann schnell komplizierte Details vergessen, die den Tag so besonders und einzigartig gemacht haben.

Was assoziierst du mit Iran?

Was die Sprache betrifft, empfinde ich Farsi als die poetischste Sprache. Generell assoziiere ich Poesie mit Iran… Und es ist ein Ort, den ich besuchen möchte.

Kredit:
Alle Fotos: Noavi
Text: Anahita Vessier
Übersetzung: Ulrike Goldenblatt
http://www.noavi.com

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ROXANA FAZELI, Das Portrait Irans

ROXANA FAZELI, Das Portrait Irans

Roxana Fazeli ist eine talentierte iranische Fotografin, die in Teheran lebt und arbeitet. In ihren Bildern beobachtet sie die kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt Irans. Hier eine Auswahl ihrer Fotos, die sie während ihrer Reisen mit verschiedenen im Iran lebenden Volksstämmen (Kaschgai, Turkmenen, Kurden) gemacht hat, die ihre Traditionen und alten volkstümlichen Lebensstil beibehalten konnten.

Nachdem sie ihren Bachelor Degree in Fotografie an der Azad Universität in Teheran abgeschlossen hat, arbeitet Roxana seitdem als Dokumentarfotografin für iranische und internationale Zeitungen und Magazine.

Auf ihren ihren Reisen mit den verschiedene Stämmen hat Roxana einfache aber grosszügige Menschen, Bauern, Hirten kennengelernt, die sie herzlichst zu sich nachhause eingeladen haben.

Egal von welcher Gesellschaftsschicht auch immer, Iraner sind im Allgemeinen sehr bekannt für ihre außerordentliche Kunst der Gastfreundlichkeit.

Kredit:
Alle Fotos: Roxana Fazeli
Text: Anahita Vessier
Übersetzung: Anahita Vessier
http://roxanafazeli.webs.com/

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SLAVS AND TATARS, Eine neue Vision Eurasischer Kunst

SLAVS AND TATARS, Eine neue Vision Eurasischer Kunst

Slavs and Tatars ist eine Kunstkollektive, die vom polnisch-iranischen Duo Kasia und Payam gegründet wurde. Die beiden widmen ihre Arbeiten einem Gebiet östlich der Berliner Mauer und westlich der großen chinesischen Mauer.

Anahita’s Eye folgt seit langem den Arbeiten des Duos und hatte die Chance, die beiden zu interviewen, als sie ihre Ausstellung „Afteur Pasteur“ in der Tanya Bonakdar Galerie in New York vorbereiteten.

Warum habt ihr den Namen ‚Slavs and Tatars‘ (Slawen und Tatare) gewählt? Und warum die Zuneigung zu einem Gebiet „östlich der ehemaligen Berliner Mauer und westlich der großen chinesischer Mauer“?

Normalerweise wird ein Name für das gewählt, was man repräsentiert und wen man darstellen will. Wir haben uns für ‚Slavs and Tatars‘ aus dem entgegengesetzten Grund entschieden. Unser Name ist ein Mission Statement: wir wollen uns einer Gegend zuwenden, die gleichzeitig politisch und imaginär ist, aber auch durch die „Ritzen unsere Amnesie-Dielen“ rutscht und in somit in Vergessenheit gerät.

„Dieses Gebiet ist hauptsächlich muslimisch aber nicht mittel-östlich, man spricht viel Russisch, aber es ist nicht Russland, und obwohl große Teile in Asien liegen, gehörte nur ein kleiner Teil (Xinjiang) historisch zu China.“

Es gibt natürlich auch ein humoristisches Element hier. Wir haben Slavs and Tatars 2006 gegründet, kurz nachdem die neuen Mitgliedsstaaten 2004 in die EU aufgenommen wurden. Zur Erinnerung, es gab ziemlich viele Vorurteile gegen und fast schon Hysterie über dieses „andere“ Europa, also die osteuropäischen Staaten, die dem „exklusiven Club“ der restlichen Europäer beitreten sollten. Es gab den berühmten polnischen Installateur, den bulgarischen Bauarbeiter etc… Der Name ‚Slavs and Tatars‘ spielt mit dieser Angst – im zeitgenössischen und historischen Sinne – als ob es Horden gab, die da warteten, um zu vergewaltigen und zu plündern wie bei Braveheart.

Unser Name ‘Slavs and Tatars‘ ist keine Identität, im Gegenteil, er markiert den Kollaps der Identitäten. Sogar zwischen ‚Slawen‘ und ‚Tartaren‘ gibt es eine ganze Geschichte an Konfluenz und Spannung. Nur durch die Ansammlung verschiedener Identitäten – und dem Ausgleichen der Spannungen zwischen ihnen – kann man beginnen, sich über die reduzierende und brüchige Identitätspolitik hinwegzusetzen, die uns bis heute plagt.

Kannst du etwas zu eurem kreativen Prozess sagen? Was sind eure Inspirationen? Warum habt ihr euch am Ende für Skulpturen als Hauptausdrucksmittel entschieden?

Skulpturen, Installationen und Ausstellungen sind nur ein Teil und stehen nicht unbedingt im Vordergrund. Wir halten auch Vorträge, machen Performances und publizieren.

Zurzeit halten wir 2-3 Vorträge im Monat an verschiedenen Orten, von Universitäten bis zu Kunst-Institutionen. Normalerweise haben wir einen dreijährigen Zyklus. Die ersten beiden Jahre sind der Forschung eines Themas gewidmet: zuerst kommt die bibliographische Forschung, z.Bsp. Türkische Sprachpolitik oder das mittelalterliche Genre der politischen Ratgeberliteratur, die man auch als „Spiegel der Prinzen“ kennt. Dann folgt die Feldforschung, z.Bsp. in Xinjiang, um die Ideen praktisch auszuloten, die wir analytische bearbeitet haben. Dann kommt die entscheidende Frage:

„Was bringen wir als Künstler auf den Tisch, das sich von der Arbeit der anderen, Politiker, Forschern und Aktivisten etc. unterscheidet?“

Die Übertragung dieser Forschungsarbeiten in die Kunst ist vielleicht das Schwierigste von allem. Am Anfang haben wir ausschließlich mit Drucken gearbeitet. Das heißt, wenn jemand sich mit unserer Kunst befassen wollte, musste er lesen. Es gibt wenige Sachen, die so unerfreulich oder unaufmerksam gegenüber dem Publikum sind, als etwas zum Lesen an die Wand zu hängen. Obwohl wir in der Praxis besser wurden, wir nahmen Skulpturen, Installationen und Performances dazu, sind Wände für uns nicht attraktiver geworden. Wenn wir im Zeitalter der visuellen Übersättigung leben, dann sind wir unter den (vielen) Schuldigen, die das möglich machten!

Unter den drei Achsen unserer praktischen Arbeit, sind es die Vorträge und Publikationen, in denen wir eine Reihe von Bedenken äußern, die unsere Skulpturen und Installationen Stück für Stück wieder auseinandernehmen. Das heißt nicht, dass man schweigen sollte, sondern es geht um das Rückgängig machen, um das Auftrennen dieser Ideen, wie beim losen Faden eines Strickpullovers.

Hast du ein Lieblingszitat, das dich inspiriert?

„Gib die Welt auf. Gib die nächste auf. Gib das Aufgeben auf.”

Thomas Merton

Hat jeder von euch eine definierte Rolle bei „Slavs and Tatars”?

Ja, aber wir redigieren einander rigoros.

Bei vielen eurer Installationen ladet ihr das Publikum ein, mit den Werken zu interagieren, sie anzufassen, darauf zu sitzen oder zu liegen, darüber zu diskutieren. Ist diese direkte Konfrontation und die Erfahrung, die viele Leute mit euren Kunstwerken machen, ein wichtiger Teil eures künstlerischen Konzepts?

Auf jeden Fall. Es ist auch eine Verpflichtung der Idee des Nachdenkens gegenüber, welches sich in Kunsträumen abspielt. Zu oft kann man sich im Museum nur im Café hinsetzen oder auf eine der seltenen Bänke vor einem Meisterwerk. Wenn Kunst eine transformative Rolle spielen soll, und nicht nur eine bildende oder unterhaltende, dann muss der Ort der Kunst gastfreundlicher werden.

Slavs and Tatars sprechen so viele verschiedene Sprachen: Farsi, Polnisch, Englisch, Französisch, Russisch etc. Sprache und linguistische Komplexität sind wichtige Themen in eurer Arbeit. Wo kommt das große Interesse an Sprachen her?

Übersetzung wird zur Form linguistischer Gastfreundschaft, um es mit Paul Ricoeurs Worten zu sagen. Wir laden den ANDEREN in unsere Sprache ein und verleihen uns selbst an die Sprache des ANDEREN. Wir werden in jeder Sprache zu anderen Menschen: Zum Beispiel ist unser Sinn für Humor im Französischen dem im Russischen oder Persischen überhaupt nicht ähnlich.

„Sprache erlaubt es dir, dich selbst zu “ändern”, der “andere” zu werden.”

Ist Humor eine essentielle Zutat in euren Kunstwerken?

Absolut. Humor hat immer eine sehr wichtige Rolle in unserer Arbeit gespielt, als entwaffnende Form der Kritik, als Verlängerung der Großzügigkeit, als Indikation für Infra-Politik, wie James Scott sie definiert: das versteckte Transkript, die geflüsterten Geschichten.

„Jeder Witz ist eine kleine Revolution“

sagte Orwell, mehr als die oft konfrontative sichtbare Politik des Marsches, der Nachrichten oder des Staates.

Welche Projekte können wir von euch in der Zukunft erwarten?

Im Moment bereiten wir unsere erste Show in der Tanya Bonakdar Galerie in New York vor. Darin geht es um sauergewordene Politik oder um die Neubewertung unserer Beziehung zum „Anderen“, indem wir unsere Beziehung zum Original-Fremden betrachten: die Mikrobe und Bakterie. Wir arbeiten auch an einer Retrospektive für 2017-2018 unserer Arbeiten zwischen Warschau, Vilnius und vielleicht Istanbul.

Ihr lebt sehr kosmopolitisch, eure Kunst wird auf Kunstmessen und Ausstellungen in der ganzen Welt gezeigt. Gibt es ein spezielles Objekt, das euch auf euren Reisen um die Welt begleitet?

Wir versuchen, so oft es geht, mit frischen Kräutern zu reisen – ein Bündel Estragon und Koriander – damit wir den Stress beim Essen in Zügen, Flugzeugen und Autos abmildern können.

Slavs and Tatars, was assoziiert ihr mit Iran?

Maulbeeren.

Kredit:
Alle Arbeiten von Slavs and Tatars
– Kitab Kebab, 2016 – fortlaufend
– Friendship of Nations: Polish Shi’ite Showbiz, Herausgeber: Book Works / Sharjah Art Foundation
– Mother Tongues and Father Throats, Galerie Moravian, Brünn (2012)
– Dig the Booty (2009)
– Pray Way (2012)
– Installation im Trondheim Kunstmuseum
– Links: Larry nixed, Trachea trixed (2015) rechts: Tongue Twist Her (2013)
– Lektor, Soundinstallation, Leipzig (2014-15)
– AÂ AÂ AÂ UR, Skulpturpark Köln (2015)
Text: Anahita Vessier
Übersetzung: Ulrike Goldenblatt
http://www.slavsandtatars.com

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IRACEMA TREVISAN, Brasilianischer Chic

IRACEMA TREVISAN, Brasilianischer Chic

Für mich besitzt Ira unglaubliche Stilsicherheit und Chic: wie sie Farben, Accessoires und Drucke kombiniert, wie sie ihre eigenen Kreationen trägt, die sie unter der Marke Heart Heart Heart vertreibt. Dieser Chic mit einem Twist, ihre brasilianischen Wurzeln, ihr Leben heute in Paris und ihre Karriere als frühere Bassistin der Indie-Band Cansei de Ser Sexy machen ihren Stil so einzigartig, persönlich und faszinierend.

Deine Tücher sind alle in limitierter Auflage produziert und nummeriert, fast wie Kunstwerke. Warum sind Tücher dein liebstes Designstück?

Während meines Studiums begeisterte ich mich immer mehr für Drucke und der einfachste Weg, Drucke zu tragen, ist auf Tüchern oder Schals.

Ich möchte meinen Kreationen kein bestimmtes Datum geben, deswegen habe ich die Kollektionen durch Serien ersetzt. Ein Tuch ist ein zeitloses Teil, das man fürs ganze Leben hat und das man auf verschiedene Weise tragen kann.

Woher hast du die Inspirationen für dein Textil-Design?

Natur. Die Beziehung zwischen Mensch und Natur.

„Die Natur inspiriert mich, Bäume, Tiere, Insekten. Diese natürlichen Elemente kombiniere ich mit sehr „unnatürlichen“ Dingen, die eigentlich dort nichts verloren haben.“

Welche Künstler inspirieren dich?

Ich liebe konzeptionelle Kunst, besonders die von Künstlerinnen wie Agnes Martin oder Jay De Feo. Aber meistens geht es nicht um eine bestimmte Arbeit oder Ästhetik, sondern eher um die künstlerische Geste, den kreativen Weg, den sie nahmen, um dort anzukommen, wo sie sind.

Planst du, außer Tüchern auch andere Stücke für Heart Heart Heart zu entwerfen?

Ja, klar. Auf natürlichem Weg lande ich bei Schmuck. Aber es gibt auch viele andere Möglichkeiten.

Du hast kürzlich mit der amerikanischen Künstlerin Miranda July zusammengearbeitet. Wie kam dieses Projekt zustande?

Es war ein Projekt, über das ich lange nachdachte. Miranda ist eine Freundin, aber darüber hinaus ist sie eine der eindrucksvollsten zeitgenössischen Künstlerinnen.

„Ich habe immer die Absicht, mehr zu liefern als Design, etwas, das eine Geschichte erzählt. „

Woher stammt der Name deines Labels Heart Heart Heart?

Ich wählte es wegen des Bildes, das entsteht und auch wegen der Worte “earth” (Erde) und “art” (Kunst), die sich im Wort verstecken.

Hörst du Musik, wenn du deine Entwürfe machst? Welche Musik hast du zu deiner letzten Kollektion gehört?

Ich höre immer Rap und Hip-Hop. Meiner Meinung nach kommt da heute die Energie und Innovation her. Rockmusik kommt und geht und ich finde sie seit neustem wirklich langweilig, weil sie zu sehr an die Vergangenheit erinnert. Das passiert mir auch manchmal mit Mode.

Du warst Bassistin der brasilianischen Indie-Band Cansei de Ser Sexy. Warum hast du von Musik zu Mode gewechselt? 

Ich habe schon in der Modeindustrie gearbeitet, bevor ich zur Musik kam. Ich arbeitete als Modedesignerin für Alexandre Herchcovitch. Am Wochenende machte ich Musik. Cansei de Ser Sexy gab es schon seit 2003. Für mich war es eine wunderbare Erfahrung und ich hatte viel Spaß. Am Anfang waren wir ganz spontan. Aber als wir am zweiten Album arbeiteten, versuchten wir plötzlich, alles zu kontrollieren, es gab keinen Zauber und keine Spontanität mehr. Das war der Moment, an dem ich aus der Band ausstieg. Ich entschied, nach Paris zu ziehen und meinen Master an der IFM zu machen.

Obwohl du die Musik hinter dir gelassen hast, arbeitest du manchmal für Musikprojekte, wie für das Cover von Nicolas Godins Album Contrepoint. Wie war die Zusammenarbeit mit Nicolas, der auch dein Verlobter ist? Was war deine Inspiration für das Album-Cover?

Nicolas und ich hatten zusammen die Idee. Eine Freundin von uns ist Fotografin und sie machte das Coverbild und ich habe das Paintbrush dazu gemacht.

Warum die Lippen?

Das Album ist sehr sexy und hat etwas sehr Sinnliches. Ich wollte diese Sinnlichkeit der Musik auch auf dem Cover reflektieren.

Als Brasilianerin, die jetzt in Paris lebt, was magst du an Paris und am Pariser Stil? Was vermisst du aus Brasilien? Wie vereinbarst du beide Kulturen und Mentalitäten im täglichen Leben, in deiner Arbeit? Gibt es eine typische brasilianische Tradition oder Angewohnheit, die du in deinem Leben in Paris beibehältst?

Haha, Zuspätkommen zählt?… Brasilien ist wirklich entspannt und lässig, was toll ist aber auch ein Fluch sein kann, weil es schwer ist, eine angefangene Arbeit gut zu beenden oder überhaupt durchzuziehen

Ich liebe es, dass die Franzosen Stil so ernst nehmen, es ist eine Lebensweise und es ist ihr bestes Talent, das sie in die ganze Welt exportieren.

Ich versuche, die Dinge um mich herum leicht zu gestalten, und denke dabei an die Sonne zu Hause. Vielleicht ist das mein Beitrag. Brasilien ist auch leichter, was Mode und Stil angeht. Wir haben keine Vergangenheit, die uns viele Vorbilder gibt, also meinen die Leute, sie können ihre eigene Geschichte erfinden.

Gibt es einen speziellen Gegenstand, der dir wichtig ist und den du aus Sao Paulo mit nach Paris genommen hast? 

Ich habe eine wunderbare alte Ausgabe des Buches “Iracema”. Nach diesem Titel bin ich benannt worden.

Was assoziierst du mit Iran? 

Das persische Imperium, Geschichtsunterricht,… auch persisches Design, das so kompliziert und wunderschön wie die Frauen in Iran ist.

Kredit:
Foto von Iracema: Christophe Roué
Fotos von Heart Heart Heart Tüchern: Iracema Trevisan
Konzept von Nicolas Godins Albumcover „Contrepoint „: Iracema Trevisan
Text: Anahita Vessier
Übersetzung: Ulrike Goldenblatt
http://www.heartheartheart.com

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YARED ZELEKE, Die Schönheit Äthiopiens

YARED ZELEKE, Die Schönheit Äthiopiens

Bevor ich Yared Zeleke traf, sah ich seinen Film “Ephraim und das Lamm” und offen gesagt hat mich die Schönheit des Filmes sowie das Talent dieses jungen äthiopischen Filmemachers umgehauen. Als ich dann Yared persönlich traf, war ich sofort von seiner feinen Art, seiner Offenheit, seinem Humor und seiner Liebe zu Äthiopien fasziniert.

Wie bist du zum Filmemachen gekommen?

Ich wuchs mit den Geschichten meiner Großmutter auf. Sie war eine großartige Erzählerin und sie war für ihre Geschichten im Ort bekannt. Daher kommt mein Interesse am Filmemachen. Später, als ich aufwuchs, liebte ich das Lesen und Schreiben. Ich liebe es, zu schreiben und Regie zu führen, ich mache beides wirklich gern.

Warum wolltest du einen Film über Äthiopien Machen?

Ich bin, seit ich 10 bin, in den USA aufgewachsen und die Leute sagten mir immer, ich käme aus der Wüste. Nichts ist falsch an der Wüste per se, aber es symbolisiert Leere und das hieß, ich komme aus dem Nichts. Das war einer der Hauptgründe, warum ich mich entschied, meinen ersten Film über Äthiopien zu drehen.

“ Ich wollte die Schönheit dieses Landes zeigen, das das genaue Gegenteil von Wüste ist. Es ist grün, gebiergig, überhaupt nicht flach und trocken.“

Ist der Film autobiographisch?

Es geht um das Thema, wie ein Kind mit Verlust umgeht, etwas, was mir genau so passiert ist. Trotz der Dürre und der schwierigen politischen Situation (Diktatur, Krieg), hatte ich die glücklichste Kindheit. Ich wurde geliebt und immer von meiner Familie und der Gemeinschaft unterstützt.

Obwohl dieses fundamentale Thema also meine Geschichte ist, ist die Welt, in der es spielt, nicht meine. Ich bin in einer Stadt aufgewachsen (Addis Abeba), ich hatte nie ein Haustier, ich koche nicht gern. Also ist vieles aus meiner Vorstellung und das ist wichtig, wenn man Geschichten erzählt.

Die Schauspieler im Film sind Laiendarsteller. Wie hast du sie gefunden? War es nicht schwierig, einen Film mit Laiendarstellern zu drehen?

Wir hatten 7000 Leute in 6 Monaten beim Vorsprechen, die Hälfte davon waren Kinder aus staatlichen Schulen, meistens in der Stadt oder dem Dorf, in dem wir drehten. Als wir Rediat Amare trafen, den Jungen, hatten wir zuerst Schwierigkeiten, seine Eltern zu überzeugen, dass sie ihm die Erlaubnis dafür geben. Wir mussten erst ihr Vertrauen gewinnen. Er ist ein armes Kind aus dem Slum, das sehr talentiert ist. Wir brauchten trotzdem vier oder fünf Anläufe, bevor ich wusste, dass er für die Hauptrolle der Richtige ist, denn es erfordert sehr viel von ihm: Ist er offen, kann er zuhören, kann er vertrauen, kann er lachen, kann er weinen?

Ein paar der Schauspieler kamen vom Theater. Wir mussten ihnen also beibringen, wie man vor der Kamera auftritt.

Und das Lamm?

Wir brauchten einzelne Lämmer, die keine Verbindung zueinander hatten. Und dann haben wir sie für zwei Monate zusammen mit Rediat, dem Jungen, trainiert, damit jedes von ihnen zu ihm eine Beziehung aufbaut.

Wir hatten die ganze Zeit fünf Lämmer bei uns am Set, sogar als wir 4000 Meter hoch in der Berge oder in den Wald gingen. Am Ende sieht man im ganzen Film immer nur das gleiche Lamm, denn es tat alles, was nötig war.

Wie haben die Leute im Dorf reagiert, als ihr gefilmt habt?

Das sind ländliche Äthiopier, die tief in den Bergen leben. Sie haben nicht mal Elektrizität.

„Wahrscheinlich waren wir für sie Aliens mit komischen Instrumenten, die Experimente machten.“

Am Anfang waren sie vorsichtig und reserviert, auf die äthiopische Art immer mit einem Lächeln, aber am Ende haben wir ihr Vertrauen gewonnen und dann war es wundervoll. Sie weinten fast, als wir abreisten. Es herrschte so eine Sanftheit an dem Ort.

Es war trotzdem nicht immer leicht, den Film zu drehen, denn die Regierung war misstrauisch, die Leute waren misstrauisch, weil Äthiopien so einen schlechten Ruf in den Medien hat. Für die religiösen Szenen brauchten wir die Erlaubnis der Äthiopischen orthodoxen Kirche. Die Dreharbeiten für diesen Film waren sehr empfindlich und es hätte an vielen Ecken schief gehen können.

Ephraim und das Lamm hatte bei den Cannes Filmfestspielen 2015 Premiere. Es wurde dort beim „Uncertain Regard“ Programm aufgeführt. Wie hast du dich gefühlt, als du deinen Film in Cannes präsentiert hast? Waren die Schauspieler dabei?

Ich war so überwältigt, dass ich mich fast nicht freuen konnte, weil ich so unter Spannung stand. Aber das heißt nicht, dass ich es gar nicht genossen habe, es war nur wie ein Tsunami für mich!

„Alle Schauspieler kamen mit mir nach Cannes. Es war das erste Mal, dass sie im Ausland waren. Stell dir nur all ihre Impressionen von der westlichen Welt vor.“

Für die Filmmusik hast du mit Christophe Chassol zusammengearbeitet. Wie kam diese Kooperation zustande? Hatte er eine „Carte Blanche“ oder gab es Vorgaben für die Musik?

Was die Komposition betrifft, wollte ich lieber keine äthiopische Musik, denn ich wollte keinen folkloristischen Film. Obwohl der Film in einem typischen und traditionellen äthiopischen Dorf spielt, ist mein Blickwinkel als Filmemacher eher aus der Gegenwart. Also sollten bestimmte künstlerische Elemente im Film auch zeitgemäß sein. Wer hätte da besser sein können als Christophe Chassol.

Ich hatte Glück, dass Jorge Fernandez mir die Musik von Chassol vorstellte. Er war der Musik-Verantwortliche für den Film. Als ich seine Musik zum ersten Mal hörte, wusste ich sofort, dass Chassol die richtige Person für diesen Film war. Als wir dann bei der Arbeit zusammensaßen, war es wie ein Zauber. Man musste viel hören und lernen und die Sachen zusammen „erfühlen“. Totales Vertrauen. Er war so auf die Geschichte, die Figuren und mich eingestellt. Also war es eine Kombination von „Carte Blanche“ und Zusammenarbeit.

Als Äthiopier, der in New York aufgewachsen ist und jetzt in Paris lebt, hast du einen typischen äthiopische Gepflogenheit, um dein Ursprungsland zu fühlen?

Ich wurde wirklich von New York geprägt, wo ich studiert habe. Vor drei Jahren besuchte ich Addis Abeba, wo der größte Teil meiner Familie lebt und jetzt habe ich mich in Paris eingelebt. Aber wenn ich Heimweh habe, gehe ich in ein Äthiopisches Restaurant.

Äthiopische Musik zu hören, hilft mir auch dabei, meine Wurzeln zu spüren. Es verbindet und inspiriert mich. Ich mag alte genauso wie neue äthiopische Musik.

Ich liebe auch diese traditionellen Shals in Äthiopien, die man auch im Film sieht. Viele von ihnen sind handgewebt. Wenn ich reise, habe ich immer einen dabei. Sie sind so wunderschön. Es gibt noch etwas, dass ich mir in Äthiopien gekauft habe, ein orthodoxes Kreuz. Ich trage es immer bei mir. Es bringt mir Glück.

Was assoziierst du mit Iran?

Ich denke an die Filme von Kiarostami, an die Filme von der Kurdischen Seite Irans wie „Schildkröten können fliegen“ von Bahman Ghobadi, an „Die Farben des Paradieses“ von Madjid Madjidi. Farsi klingt so wunderschön, wenn ich mir die Filme ansehe. Ich denke auch an den Poeten Rumi, den ich gerne lese.

Kredit:
Fotos: Ama Ampadu (Slum Kid Films)
Text: Anahita Vessier
Übersetzung: Ulrike Goldenblatt
http://.filmsdistribution.com/Film.aspx?ID=11744

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